Der aufgeklärte Patient

Ein aufgeklärter Patient ist nicht derjenige, der das Informed Consent (IC)-Formular (auch Aufklärungsformular genannt) unterschrieben hat und somit einem körperlichen Eingriff für den Arzt rechtlich nachvollziehbar zugestimmt hat. Der aufgeklärte Patient ist im hiesigen Kontext derjenige Patient, der sich für seine Gesundheit selbst verantwortlich fühlt. Dies mag anfangs eine nichtssagende, vielleicht sogar banale Feststellung sein. Doch sie hat gravierende Implikationen.

Bevor wir die Charakteristika des aufgeklärten Patienten definieren, eine Feststellung vorab: Aus meiner eigenen Erfahrung und der Erfahrung vieler Kollegen kann ich sagen, dass die Mehrheit der heutigen Patienten eben nicht aufgeklärt ist. Sie gehen mit einem gesundheitlichen Problem zum Arzt wie zu einem Zauberer, in Erwartung, dass er sie durch eine “Pille” wieder repariert. Dabei wird die Verantwortung für die eigene Gesundheit vom Patienten auf den Arzt projiziert. Dies geschieht, obwohl die somatisch-restriktive Medizin bei vielen akuten und teilweise auch chronischen Krankheiten rein symptomatisch arbeitet und sich zwecks Genesung vielfach auf die natürlichen Heilkräfte des Organismus oder den häufig selbstlimitierenden Verlauf einer Krankheit verlässt. Der nicht aufgeklärte Patient versteht nicht, dass er selbst in großem Maße für seine Gesundheit und Genesung verantwortlich ist. Der Arzt ist lediglich ein Helfer in diesem Prozess. Ein Helfer, der ihm den Weg bis zur Rekonvaleszenz erleichtern soll und ihn auf diesem Wege anleitet.

Die somatisch-restriktive Medizin hat sich unbemerkt in ihrem Umgang mit den Patienten daran gewöhnt, unaufgeklärte Ansichten bei Patienten zu bedienen und zu stärken. Eigentlich sollte dies verwundern, schließlich ist gerade, wie oben erwähnt, bei dem häufig rein symptomatischen Vorgehen der somatisch-restriktiven Medizin die Feststellung doch ganz naheliegend, dass der Körper sich selbst heilt. Man bekämpft lediglich die Symptome, nur selten kann man den Grund der Erkrankung kausal bekämpfen. Auch ist es eher selten möglich und vor allem notwendig, den genauen Grund für die Beschwerden klinisch überhaupt herauszufinden. 

Ein großer Nachteil bei unaufgeklärten Patienten ist ihre schlechte Compliance, die aus einer gleichgültigen Haltung gegenüber der eigenen Gesundheit entsteht. "Wenn ich krank bin, gehe ich doch einfach zum Arzt und er repariert mich. Ich selbst kann doch meine Beschwerden nicht beeinflussen", denkt sich der unaufgeklärte Patient. Es erübrigt sich zu sagen, dass diese Denkweise sehr weit von der Wahrheit entfernt ist.

Primäres Ziel einer modernen, menschengerechten Medizin sollte der aufgeklärte Patient sein, der für seine Gesundheit im Allgemeinen und für die Genesung im Speziellen die Verantwortung übernehmen möchte. Zum aufgeklärten Patienten gehören folgende Aspekte:

  • Besonders bei chronischen Erkrankungen sollte der Patient verstehen, was im Körper nicht richtig läuft und im Groben auch was ärztlicherseits getan wird, um es zu korrigieren. Dies gilt in gewissem Maße ebenso für akute Erkrankungen. Dabei ist keinesfalls von der Vermittlung ärztlichen Fachwissens die Rede, mehr jedoch von laiengerechter Aufklärung (patho-)physiologischer und therapeutischer Grundlagen, damit der Patient die Erkrankung und die Therapie versteht. Dies soll in einer für den Patienten nachvollziehbaren Sprache geschehen (je nach kognitivem Entwicklungsstand). Vor operativen und bestimmten interventionellen Eingriffen ist eine Aufklärung über die Gründe und das Vorgehen seit längerem Pflicht. Warum nicht auch bei konservativen Massnahmen, besonders, wenn sie für längere Zeiträume geplant werden? Wenn der Patient die ärztlichen Massnahmen und Verordnungen durchblickt, würde dies seine Compliance steigern. Er würde z. B.  verstehen, warum dieses oder jenes Medikament wirklich jeden Tag und nicht nur bei Bedarf eingenommen werden sollte und was er selbst gegen die pathophysiologischen Prozesse in seinem Körper bewirken kann. 

  • Der Patient sollte über die Vorteile einer gesunden Lebensweise informiert sein und wissen, dass auch psychosoziale Faktoren einen wichtigen Beitrag zur Gesundheit (oder auch Krankheit) leisten. Dies mag trivial vorkommen, es überrascht jedoch, wie häufig sich Patienten verwundert über diesen Zusammenhang zeigen. Für sie ist es häufig ein unbekannter, nahezu mysteriöser Mechanismus oder ein bloßer Erreger, der eine Krankheit zufällig hervorruft. Die Heilung liegt in einer genauso mysteriösen "Pille" und nicht etwa in der Änderung von Lebensgewohnheiten. Andererseits gibt es immer noch eine nicht überschaubare Anzahl ärztlicher Kollegen, die biopsychosoziale Zusammenhänge nicht ausreichend kennen und ihnen keinen Stellenwert beimessen oder diese gar negieren. Daher sollten Bemühungen auf beiden Seiten stattfinden, um Patienten und Ärzte entsprechend zu schulen. Im Idealfall sollte der aufgeklärte Patient auch einen gesunden Lebensstil pflegen. Dazu gehören bekanntermaßen ausreichend Bewegung sowie angemessene sportliche Betätigung, ausgewogene Ernährung, Verzicht auf Nikotin und Drogen sowie Vermeiden von übermässigem Alkoholkonsum, ausreichend Schlaf und nicht zuletzt die Vermeidung von ausgeprägtem, dauerhaftem psychischen (Dis-)Stress.  

  • Das persönliche Interesse des Patienten an dem Gesundwerden soll etabliert und gefördert werden. Den behandelnden Ärzten sollte bewusst sein, dass nicht jeder Patient, der eine ärztliche Konsultation sucht, auch wirklich daran interessiert ist, gesund zu werden. Das Interesse des Patienten an einem primären oder sekundären Krankheitsgewinn sollten ausgeschlossen werden.

  • Der Patient sollte sich als Hauptakteur in Angelegenheiten seiner Gesundheit sehen und sich nicht als Marionette des Arztes betrachten. Allein dieses Umdenken würde die Compliance der Patienten wesentlich verbessern.

Wie erreicht man das Ziel eines aufgeklärten Patienten? Wie bei vielen komplexen Vorhaben ist hierbei ein entsprechend komplexes Vorgehen auf mehreren Stufen notwendig. Den Kern davon bildet die Erziehungs- sowie die klassische Aufklärungsarbeit. Der russische Psychosomatiker Georgy Sytin propagierte als Mediziner, Psychologe und Pädagoge in seinen Werken stets: "Die Medizin sollte erziehend sein"1. Er gilt als der Begründer der "Erziehenden Medizin", die auf dem biopsychosozialen Paradigma basiert und den Patienten vollständig in den Heilungsprozess einbezieht, indem sie mit Selbstüberzeugungstexten arbeitet. Diese werden an einer anderen Stellen detailliert betrachtet und nicht hier, da es vorerst um grundlegende Ideen und nicht um konkrete Methoden der Umsetzung dieser geht. Schliesslich ist für das Erreichen der oben genannten Charakteristika des aufgeklärten Patienten nicht unbedingt eine "Erziehende Medizin" erforderlich, obwohl sie ohne Frage förderlich wäre und eine der vielen Möglichkeiten zum Erreichen von mehr Aufgeklärtheit bei Patienten darstellt. Vielmehr bedarf es einer Aufklärungsarbeit wie derjenigen im Zusammenhang mit der Tabakprävention, was wesentliche Erfolge einbrachte2. In spezielleren Fällen des primären oder sekundären Krankheitsgewinns können gezielte psychotherapeutische Massnahmen zielführend sein.

In der Medizin des 20. Jahrhundert fand ein Umdenken vom paternalistischen Patientenkonzept des unmündigen Patienten hin zum autonom entscheidenden Patienten statt3. Insofern kann man unaufgeklärte Ansichten bei Patienten theoretisch als obsolet bezeichnen. Die Medizin des 21. Jahrhundert muss einen Schritt weiter gehen: Sie muss den aufgeklärten Patienten fördern. Dazu gehört es auch, die Fähigkeit der Patienten zur Selbsthilfe gezielt auszuweiten.    

Der nicht aufgeklärte Patient läuft schlussendlich Gefahr, ein freiwilliger Patient zu werden. Ein Problem, mit dem viele ambulant arbeitende Ärzte heutzutage konfrontiert sind.

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  • 1. Сытин ГН. 2008. Мысли, творящие сильную волю. ИГ "Весь" Санкт-Петербург.
  • 2. Lang P, Strunk M. 2010. Tabakprävention der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforsch. - Gesundheitsschutz 53: 125–132.
  • 3. Eckart WU. 2017. Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Springer. S. 238.